Sinn oder Unsinn? Projizieren wir zu viel auf unsere Arbeit?

Ich bin eine ewige Sinnsuchende. Diese Suche hat mich schon auf viele Pfade geführt – im Innen und Außen. Sie hat mich bereichert. Und sie hat mich unter Druck gesetzt. Zuletzt habe ich mich gefragt, ob ich zu viel in meine Arbeit hineinprojiziere und vielleicht glücklicher wäre, wenn ich ihr etwas weniger Bedeutung beimessen würde.

Doch das Thema ist nicht nur ein persönliches, sondern auch ein gesellschaftliches. Und so kommt es auch in meinem Arbeitskontext immer wieder auf. Im Gespräch mit Personaler*innen und Führungskräften geht es dabei v.a. um das Thema Purpose im Kontext mit jungen Mitarbeiter*innen. Dabei wird deutlich: Es gibt ein großes Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach Sinn und der teilweise ernüchternden Arbeitsrealität. Dieses Spannungsfeld führt zu Frustration, sowohl bei Führungskräften als auch bei Mitarbeiter*innen.

Das Thema betrifft mich also in doppelter Hinsicht: Ich bin einerseits Teil einer Generation, die nach sinnvoller Arbeit strebt (und vielleicht auch unter diesem Streben leidet). Und in meiner Rolle als Coachin und Trainerin sehe ich die Herausforderungen, vor denen Führungskräfte und Organisationen stehen. Ich frage mich also, wie gelingt es diese Spannung in konstruktive Energie umzuwandeln? Wie viel Sinn ist sinnvoll? Und wie hoch ist der Preis, wenn wir zu viel in unsere Arbeit hineinprojizieren?

Inhaltsverzeichnis

Start with Why. Geht Beruf heute nicht mehr ohne Berufung?

Die Suche nach dem Sinn ist kein neues Motiv. Relativ neu ist allerdings, dass sich der Fokus der Sinnsuche in den Bereich der Arbeit verschoben hat. Dieses Phänomen wurde v.a. durch die Hippie-Bewegung der sechziger Jahre angestoßen, welche den Kapitalismus und die Einengung der Menschen durch ihre Arbeit kritisierte. (vgl. Hünninghaus, Human Resources Manager)

Und dieser Wunsch zeigt sich auch heute noch deutlich, z.B. in einer aktuellen Studie von Randstad, die erforschte, was sich Arbeitnehmer*innen der Gen Z im Beruf wünschen. Die Studie kam zu folgenden Ergebnissen:

  • 72% wünschen sich eine Karriere mit Sinn
  • 68% wünschen sich einen Beruf in dem sie gebraucht werden
  • 66% wünschen sich gesellschaftliche Anerkennung für ihre Arbeit

Die Hoffnung (seit damals und bis) heute: Arbeit ist nicht mehr nur Lohnerwerb und Lebenssicherung, sondern zunehmend auch Berufung und Selbstverwirklichung. Klaus Eidenschink schreibt, dass das Streben nach Purpose “im Prinzip ein Ende von „entfremdeter Arbeit“ [verfolgt], welche vom Mitarbeiter die Erfüllung einer vorgeschriebenen Aufgabe im Austausch gegen Entlohnung verlangt.” (Das ist natürlich eine westlich, privilegierte Perspektive. In vielen anderen Teilen der Welt arbeiten Menschen weiterhin schlicht, um zu überleben

Die positiven Aspekte von Purpose

Purpose und Motivation

Doch soweit erstmal eine positive Weiterentwicklung, die einige Gewinne mit sich bringt: Wenn wir Sinnhaftigkeit in unserer Arbeit erleben, sind wir motivierter, engagierter und leistungsfähiger. Dadurch steigt auch unsere allgemeine Lebenszufriedenheit. Purpose ist einer der stärksten intrinsischen Motivatoren. Oder um es mit Simon Sinek’s Worten zu sagen: “Working hard for something we don’t care about is called stress. Working hard for something we love is called passion.”

Purpose und Orientierung

Außerdem geben Sinnzuschreibungen unserem Leben bzw. Arbeiten eine Richtung vor. Gerade in einer immer komplexer werdenden VUCA-Welt sehnen sich viele Menschen nach einer solchen Orientierung. Ein definierter Purpose funkioniert wie ein Kompass, der es uns ermöglicht unseren Weg durch eine sich ständig wandelnde (Arbeits-)Welt zu finden. Er hilft uns dabei Entscheidungen zu treffen und zu priorisieren. Er gibt uns Halt und Struktur.

Purpose und emotionale Bindung

Wenn wir uns mit dem Company Purpose identifizieren können, fühlen wir uns dem Unternehmen zugehörig und persönlich verbunden. Wir erleben uns dann als Teil einer Kollegiums mit einem ähnlichen Wertesystem und identifizieren uns mit der Unternehmenskultur. Dadurch fühlen wir uns wohler und sicherer am Arbeitsplatz, was wiederum die Leistungsfähigkeit erhöht, sowie Fluktuation und Fehlzeiten senkt.

Purpose aus organisationaler Perspektive

Und auch aus organisationaler Perspektive sind Sinnzuschreibungen erstmal nützlich. Purpose ist ein wunderbares Instrument um Mitarbeiter*innen zu gewinnen, zu motivieren und im besten Fall zu halten. Es ist sowohl Marketing- als auch Führungsinstrument. Es stiftet eine emotionale Bindung zwischen dem Unternehmen und den Mitarbeiter*innen (und Konstument*innen).

“Gibt es keine attraktiven Narrative, keine Ankerpunkte, an die sich Mitarbeiter halten können, dann wird es unmöglich, die Organisation auszurichten und Mitarbeiter eine Orientierung für die Richtung ihrer Arbeit zu geben. Umsatz- oder Ergebnisziele reichen dazu oft nicht aus. Organisationsmitglieder müssen sich auch emotional in gemeinsamer Begeisterung verbinden können.”

Übrigens: Laut dem Global Workplace Report 2022 von Gallup machen Unternehmen mit einer hohen emotionale Bindung der Arbeitnehmer*innen 23 Prozent mehr Profit. Wobei in Deutschland nur 16 Prozent der Arbeitnehmer*innen eine solche Bindung empfinden.

Doch wie alles im Leben hat auch die Purpose-Entwicklung eine Kehrseite. Was passiert, wenn wir zu viel in unsere Arbeit hinein projizieren?​

Purpose und Enttäuschung

Ein übermäßiger Fokus auf die Suche nach Sinn in der Arbeit kann zu Enttäuschung und Frustration führen. Oft kann die Realität des Arbeitsalltags den Erwartungen nicht standhalten, die wir in unsere Arbeit hineinprojizieren. Die „erfüllende Tätigkeit“ ist ein Idealbild. In der Realität fallen aber auch viele eher ernüchternde Aufgaben an. Im Lateinischen sowie in vielen anderen Kultursprachen gibt es zwei Bezeichnungen für Arbeit, die sich in ihrer Bedeutung unterscheiden: „facere“ und „laborare“. Laborare meint Arbeit als Mühsal, als Schuften, als notwendiges Tun. Facere hingegen meint Arbeit als Schaffen, als Kreieren, als erfüllendes Tun. Im Begriff „Arbeit“ werden also lästiges und lustvolles Schaffen vereint.

Und auch im Arbeitsalltag finden wir beide Formen von Arbeit wieder. Wer nur „facere“ erwartet, wird zwangsläufig enttäuscht. Wer zu viel „laborare“ erlebt, wird krank. Vielleicht liegt die Kunst darin, beide dieser Arbeitsformen in unserem Alltag zu erwarten und in angemessenem Maße auch zu akzeptieren. Und gleichzeitig, nicht ständig aber immer wieder, zu überprüfen und zu hinterfragen, was dieses angemessene Maß denn für uns persönlich ist.

Purpose und das Leben

Wir verbringen rund ein Drittel unserer Lebenszeit bei der Arbeit. Ob wir dort zufrieden oder unzufrieden sind, hat zweifellos einen maßgeblichen Einfluss auf unsere allgemeine Lebenszufriedenheit. Gleichzeitig ist es gefährlich, Sinn und Erfüllung ausschließlich im Beruf zu suchen, denn die Sinnsuche im Arbeitsumfeld kann immer nur ein Teil des Lebenssinns sein.

Um ein erfülltes Leben zu führen, müssen wir alle Lebensbereiche einbeziehen und uns die Frage stellen: Was brauche ich, um hier Erfüllung und Zufriedenheit zu erleben? Arbeit ist ein Teil unseres Lebens, aber sie sollte nicht das Zentrum unserer Identität sein. Stattdessen dürfen wir uns als mehrdimensionale Person erleben, die Teil verschiedener Systeme ist, verschiedene Rollen einnimmt und in jeder dieser Rollen Sinnhaftigkeit und Erfüllung erleben kann.

Purpose und Abgrenzung

Sinn ist einer der stärksten intrinsischen Motivatoren. In diesem Sinne entlastet er Führungskräfte von der Aufgabe, Mitarbeiter*innen immer wieder auf ein Ziel auszurichten und motiviert zu halten. Wenn wir uns jedoch als Individuum zu sehr mit dem Purpose und den Werten unserer Organisation identifizieren, binden wir uns emotional so stark an das Unternehmen, dass wir die Fähigkeit verlieren, uns abzugrenzen. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns immer auch als Individuum betrachten, das einen eigenen Sinn verfolgt.

Illustration: Adam J. Kurtz

Wie gelingt mir als Arbeitnehmer*in also ein konstruktiver Umgang mit dem Thema Purpose?

Erlebe Erfüllung in verschiedenen Lebensbereichen.

Öffne deinen Fokus und entlaste dadurch den Bereich “Arbeit”. Im systemischen Coaching nutzen wir dafür z.B. das Rollenmodell. Darüber kannst du deine vielfältigen Rollen sichtbar machen und dich fragen, wie du diese Rollen idealerweise gestalten möchtest.

Folgende Fragen helfen dir dabei:

  • In welchen Systemen nimmst du teil?
  • In welchen Rollen agierst du dort?
  • Wie zufrieden bist du in den verschiedenen Rollen?
  • Wie willst du diese Rolle ausleben?
  • Wie kannst du jede Rolle so gestalten, dass du eine gewisse Erfüllung darin erlebst?

Schärfe und überprüfe deine Erwartungen an dein Arbeitsumfeld.

Menschen wollen etwas bewirken, doch nur 50% wissen genau was sie tun sollen (arte Dokumentation: Arbeit ohne Sinn). Oft fehlt Klarheit über die eigene Rolle, die daran geknüpfte Verantwortung und Erwartungen. Um dem entgegenzuwirken lohnt es sich die eigenen Erwartungen zu schärfen und mit der eigenen Führungskraft und/oder Kolleg*innen zu klären. Die folgenden Fragen helfen dir dabei:

  • Welche Erwartungen hast du an dein Unternehmen, an deine Führungskraft, an deine Kolleg*innen?
  • Welche dieser Erwartungen sind angemessen und im richtigen System platziert?
  • Welche Erwartungen rühren vielleicht aus einem unerfüllten Bedürfnis aus einem anderen Lebensbereich?
  • Welche Erwartungen hat das System (Unternehmen, FK, Kolleg*innen) an dich?
  • Kannst du diese erfüllen?
  • Wo besteht Klärungsbedarf?

Stifte Sinn durch deine Haltung, Werte und Arbeitsweise.

Suche den Sinn nicht im “Was”, sondern stifte Sinn durch das “Wie”. Nicht jeder von uns kann (oder will) eine Arbeit mit einer sozial-nachhaltigen Weltverbesserungsmission verfolgen. Und trotzdem können wir Sinnhaftigkeit in unserem Tun erleben, indem wir unseren Fokus vom Was zum Wie verschieben. Statt also nach der einen sinnhaften Tätigkeit zu suchen, frage dich lieber:

  • Mit welcher Haltung tue ich meine Arbeit?
  • Welchen Werten folgt mein Handeln?
  • Mit wie viel Hingabe und Achtsamkeit kann ich mich meinen Aufgaben widmen?
  • Wie gebe ich meiner Arbeit Sinn?
  • Wann erlebe ich mich als wirksam?

Dadurch entkoppelst du dein Sinnerleben von einer bestimmten Lebenssituation (z.B. der eine sinnstiftende Job) und schaffst ein beständigeres Sinnerleben über deine persönliche Art und Weise zu arbeiten. Sinn ist immer eine Zuschreibung, die wir selbst vornehmen müssen.

Unternehmen können (und sollen) Sinnangebote machen. Letztlich ist es aber Aufgabe des Einzelnen diese für sich auszudifferenzieren, anzupassen und für den eigenen Arbeitsalltag zu operationalisieren.

“Die sicherste Art sich im Leben unglücklich zu machen, ist unrealistische Erwartungen zu stellen.”

Klaus Eidenschink

Und was können Unternehmen beachten?

Schafft verbindende Purpose-Geschichten mit Raum für individuelle Ausgestaltung.

Sinnzuschreibungen sind als vereinende Narrative notwendig und werden als verbindendes Element wichtiger, umso größer eine Organisation ist. Gleichzeitig gibt es nie nur “den einen Sinn”. Verschiedene Abteilungen verfolgen unterschiedliche Interessen, die manchmal in Konflikt zueinander stehen. Das ist normal und erwünscht. Diese Spannungen machen letztlich die Leistungsfähigkeit eines Unternehmens aus. Purpose bedeutet also nicht, dass es keine Konflikte mehr gibt.

Überprüft, ob ihr Purpose-Narrative dazu nutzt, um strukturelle Probleme zu kaschieren.

“Wofür mache ich das hier eigentlich?” Wenn Mitarbeiter*innen überlastet sind und sich diese Frage stellen, muss nicht am Sinn geschraubt werden, um die Ausbeutung zu rechtfertigen. Stattdessen muss an den Strukturen gearbeitet werden: Es braucht effizientere Prozesse, mehr Rollenklarheit und Ressourcen. Nicht mehr Sinn.

Ein Purpose ist kein Allheilmittel. Oft krankt es stattdessen eher an klaren Prozesse, Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten. Da hilft kein Catch Phrase, sondern es braucht strukturelle Veränderung.

Ermöglicht euren Mitarbeiter*innen Wirksamkeitserleben durch Rollenklarheit.

Wir brauchen Purpose-Geschichten als Orientierung in der VUCA-Welt. Doch Klarheit entsteht auch durch eine gelungen Rollenklärung. Nehmt euch Zeit um Rollen und Verantwortlichkeiten ordentlich zu klären. Ein*e Mitarbeiter*in, der*die seinen*ihren Zuständigkeit, Verantwortungsbereich und Zielsetzung kennt, wird sich im täglichen Arbeiten als wirksam erleben. Mit oder ohne ausgefeiltem Company Purpose. Andersherum kann ein Purpose-Narrativ diese Klarheit im daily business nicht ersetzen.

Fördert Boundary Management und kritisches Denken.

Umso Sinn-getriebener ihr als Unternehmen seid, desto höher ist die Gefahr, dass Mitarbeiter*innen sich selbst ausbeuten. Dann ist es Führungsaufgabe eure Mitarbeiter*innen dazu befähigen, sich in gesundem Maße abzugrenzen.

Umso Sinn-getriebener ihr als Unternehmen arbeitet, desto höher ist wahrscheinlich die emotionale Bindung eurer Mitarbeiter*innen zu eurem Produkt/ Dienstleistung. Doch umso höher die emotionale Involviertheit, desto schwieriger wird es eigene blanke Flecken oder Fehler zu erkennen. Dann ist es wichtig kritisches Denken und Perspektivwechsel umso mehr zu fördern.

Mein Resümee: Angewandter Purpose

Mir ganz persönlich ist es weiterhin wichtig, dass ich meinem Beruf an sich eine gewisse Sinnhaftigkeit zuschreiben kann. Und gleichzeitig fokussiere ich mich mehr auf das tägliche Erleben von Wirksamkeit in meinem Tun, als auf den philosophischen Überbau. Ich bin dankbar für die Tätigkeiten, die ich aktuell ausführen kann und fokussiere mich darauf die Haltung zu schärfen, mit der ich diese ausführe.

Und ganz allgemein? Wir brauchen Purpose-Narrative, aber anwendbare! Wir sollten sie nutzen, um uns zu motivieren, uns auszurichten und uns zusammenzuschweißen. Doch damit sich dieses Versprechen einlöst, müssen wir sie als Leitplanken verstehen, an denen wir uns regelmäßig stoßen, die wir überprüfen und anpassen, die wir in den Arbeitsalltag übersetzen, mit denen wir wirklich arbeiten.

Purpose darf kein Versprechen sein, kein Rundum-Sorglos-Paket, kein Pflaster, um strukturelle Probleme in Organisationen zu kaschieren. Sondern ein Werkzeug mit dem wir unser berufliches Handeln ausrichten und auf Kurs halten. Ein Anker, der in stürmischen Zeiten halt und Richtung vorgibt. Ein Ausgangspunkt für eine Unternehmenskultur. Ansonsten ist Prupose nur Fassade, ein Marketing- oder Employer Branding-Tool das am Ende vor allem für Enttäuschung sorgt.

Wirksamkeit statt Purpose. Zeit für ein Reframing?

Abschließend habe ich mir die Frage gestellt, ob es hier vielleicht gar nicht so sehr um Sinn geht, sondern viel mehr um ein Wirksamkeitserlebnis? Ist die Sinnsuche eine Antwort auf die immer schwerer greifbare Wirksamkeit der Wissensarbeiter*innen? In einer Arbeitswelt in der Ergebnisse und Kausalitäten immer schwerer greifbar sind (wortwörtlich) versuchen wir diesen Mangel durch einen akademisch-philosophischen Überbau auszugleichen?

Genau dein Thema?

Als Coach, Trainerin und Organisationsberaterin helfe ich dir bei einem konstruktiven Umgang mit dem Thema Sinnhaftigkeit – in Arbeit und Leben. 

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